Ich bin kein Nashorn

Es ist jetzt gut vier Wochen her, dass ich ein Konzert besuchte. Nils Landgren trat mit seinen Freunden in einer Kirche auf. 200 Kilometer entfernt von Bremen, freute ich mich darüber, nach doch langer Zeit mit vielen Menschen gemeinsam in einem schönen Raum zu sitzen und vorweihnachtlich-skandinavischen Klängen zu lauschen.

Ich mag Konzerte, mag die Atmosphäre auch der Gemeinschaft mit vielen mir unbekannten Menschen, die durch die Kunst verbunden werden. „Alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt“ heißt es in Beethovens 9. Und manchmal durchströmt mich dieses Gefühl und das finde ich schön.

In meine Freude, und ich konnte es nicht verhindern, war eher überrascht davon, mischte sich plötzlich ein doch etwas verstörender Gedanke „Hier sind ca. 600 Menschen und wenn wir jetzt eine Impfdiskussion führten, wären wohl 400 bis 450 Personen in dem Lager derjenigen, die sich vor Ungeimpften fürchteten, sie moralisch ablehnten.

Wie naiv bin ich (und ich bin froh über meine unschuldige Freude ob der Gemeinschaft im Konzertraum) eigentlich, dass ich das vergessen kann? „Möge die ganze Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ (Blome).

Ich habe gar nichts vergessen. Ich bin noch nie in meinen 56 Jahren so entfremdet gewesen von dem, was sich Mehrheitsgesellschaft nennen lässt. Selbst wenn an diesem Abend dort in der Kirche die Mehrheit aus ungeimpften Menschen bestanden hätte, würde sich nichts daran ändern: Die Mehrheit meiner Mitmenschen hat nicht Protest erhoben, als gegen die Ungeimpften Stimmung gemacht wurde. Wie war das, als Heidelinde Weiss in der TV Talkshow „Kölner Treff“ (im Oktober 2022) sagte, „Wie können die Menschen so blöd sein, und sich nicht überlegen, was sie tun. Die gehen auf die Straße und demonstrieren gegen die Impfung. Sie sind wirklich zu prügeln, diese Menschen.“ Das Publikum protestierte nicht, es verstummte nicht, im Gegenteil: Es gab Applaus! Und das ist ja nur ein Beispiel von unzähligen Entgleisungen dieser Art. Während der vergangenen drei Jahre ist so vieles eines kultivierten und niveauvollen Umgangs miteinander auf der mit Angstgefühlen und Panik gepflasterten Strecke geblieben, verloren gegangen, fallen gelassen worden.

Es ist in meinen Augen jedermanns eigene Sache, sich für oder gegen medizinische Eingriffe, Behandlungen und Präventionen zu entscheiden. Der Staat, dem ich als freier Bürger das Recht gebe, mittels des ihm so zuteil werdenden Gewaltmonopols Entscheidungen zu treffen und im Sinne des Grundgesetzes zu agieren, ist in den letzten 3 Jahren übergriffig geworden, hat sein Übergriffig-Sein mit „Schutzbemühungen“ und „der Forderung nach Solidarität“ begründet. Individualität wurde als Egozentrik abgetan, diffamiert sogar und das Kollektiv feierte Urständ. Das Kollektiv, das den Einzelnen nicht kennen will (obwohl ja ausgerechnet der Schutz jedes Einzelnen proklamiert wurde), kannte nur eine Richtung, nur eine Wahrheit, nur ein Gut. Und alles, was kritisch, skeptisch, nicht überzeugt am Rande stand, war im Weg, wurde verdrängt, ausgegrenzt, gemobbt, genötigt und mundtot gemacht. Das alles kann ich nicht vergessen, sosehr ich es versuche.

Ich kann nicht so tun, als wäre „nix gewesen, ja, vereinzelt waren ein paar Maßnahmen übertrieben, aber im Großen und Ganzen haben wir das als Gesellschaft relativ gut in den Griff bekommen„. Nein, haben wir nicht. Die Mehrheit, das große Kollektiv, mag sich so sehen und dafür feiern – aber: um welchen Preis? Liberalität, Pluralismus sind heute Erinnerungen an gestern. Ich muss mich damit einrichten, fortan für unbestimmte Zeit eben ganz klar und deutlich nicht Teil dieser Mehrheitsgesellschaft zu sein. Momentan, Januar 2023, scheint es sich ja etwas beruhigt zu haben in Sachen „Todesseuche“. Die vergangenen drei Jahre haben mich gelehrt, dass es nur eines Funkens bedarf, der von allen Seiten angefacht wird, und die Lage wird sich erneut wieder so zuspitzen: Massen in Panik, eingeschüchtert in Angst und nur als Teil des Kollektivs zu so etwas wie Vertrauen fähig.

Ich gehöre nicht dazu, selbst wenn ich es immer versucht habe, mich an alle Regeln halte: In dem Moment, in dem ich mich gegen die als übergriffig erlebten Präventionsmaßnahmen des Staats stelle, mich nicht einverstanden erkläre, sondern anderer Ansicht bin, bin ich nicht mehr einfach nur jemand, der anderer Ansicht ist: Ich werde als Feind, als Bedrohung, als zu Prügelnder und Egozentriker betrachtet, verurteilt und darf nicht mehr dabei sein, bin mit Recht und moralischer Sicherheit auszuschließen, schräg zu betrachten, zu verunglimpfen, in rechte Ecken zu verorten usw. Paria eben.

Und das Kollektiv sieht darin kein Problem. Es gibt auch kaum Diskurs. Ich bin und war immer zu Gespräch und Austausch bereit, lese viel und vielfältig zu den Hintergründen von Corona, ob PEI, RKI, WHO, Ärzteblatt, Multipolar, Hadditsch, Bakhdi, Wodarg, von Rossum, Drosten, Tegnell, Wieler, Faucci, Kämmerer, Brinkmann, Priesemann, Ferguson, Yeadon usw.: Ich informiere mich so umfassend und kontrovers wie es mir zugänglich ist, lese deutsche, englische und norwegische Quellen – und wofür? Gespräche mit denen, die im Kollektiv ihre Heimat finden, sind rar, zu gering ist dort die Bereitschaft, sich ernsthaft auseinanderzusetzen. Die Mehrheit hat kein Interesse an irgendeiner selbstkritischen Aufarbeitung, denn die Mehrheit hat mitgemacht.

Und dann stehe ich da, vom Donner gerührt ob der Entwicklungen in der Gesellschaft und komme mir vor wie Behringer in Ionescos Nashörnern (1957).

Aktuell läuft eine Kampagne des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

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